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Globale Führung und Sicherheit - Interview mit Joya Elias

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© David Aussenhofer/ ZEIT STIFTUNG BUCERIUS
16.06.2025

Die Bucerius Summerschool on Global Governance, initiiert und organisiert von der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, feiert in diesem Jahr ihr zwanzigstes Bestehen. Seit 2023 ist die KSG Förderpartner dieses renommierten internationalen Formates, das junge Führungskräfte aus aller Welt zusammenbringt, um über globale Herausforderungen und Zukunftsstrategien zu diskutieren. Im August diesen Jahres kommen viele ehemalige Teilnehmende zum Jubiläumstreffen in Hamburg zusammen.

Joya Elias war im letzten Jahr die jüngste Teilnehmerin. Während der BSS war sie Programm-Managerin am International Institute for Justice and the Rule of Law in Malta und bringt umfassende Erfahrung in der Extremismusprävention und Menschenrechtsarbeit mit. Sie entwickelt Strategien zur Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus und unterstützt gefährdete Gemeinschaften in Afrika, der SWANA-Region und dem Indo-Pazifik. Wir sprachen mit ihr über ihre Erlebnisse bei der Bucerius Summer School, ihre Erkenntnisse aus den Diskussionen mit globalen Entscheidungsträgern und darüber, welche Herausforderungen sie für die zukünftige Generation von Führungskräften sieht.

© Bild: David Aussenhofer/ ZEIT STIFTUNG BUCERIUS

Was hat dich zur Teilnahme an der Bucerius Summerschool bewegt?  

Joya: Zum Zeitpunkt meiner Nominierung arbeitete ich noch in traditionellen internationalen Rahmen der Terrorismusbekämpfung und der Reform des Strafjustizwesens. Zugleich verspürte ich ein wachsendes Bedürfnis, über diese institutionellen Grenzen hinauszugehen und unbequemere Fragen zu stellen: über Legitimität, Regierungsführung und darüber, wem globale Politik tatsächlich dient.

Die Bucerius Summer School kam für mich zu einem entscheidenden Zeitpunkt – damals wie heute. Ich fühlte mich angezogen von der Möglichkeit offener, ungefilterter und auch widersprüchlicher Gespräche – und genau diese fanden statt: Gespräche, die nicht davor zurückschreckten, überkommene Denkmuster zu hinterfragen.

Heute arbeite ich als Beraterin mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren weltweit. Noch immer stelle ich mir dieselben grundlegenden Fragen – mit dem Unterschied, dass ich heute Programme und Politiken mitgestalte, die sich aktiv damit auseinandersetzen. Ob ich nun für internationale Organisationen Papiere verfasse, die das Programm „Frauen, Frieden und Sicherheit“ aus dekolonialer und intersektionaler Perspektive neu denken, Programme zu sexueller Gewalt in Konflikten umgestalte oder institutionelle Sicherheitskonzepte dekonstruiere – mein Fokus bleibt derselbe wie damals: Strukturen in Frage zu stellen, nicht nur anzupassen.

Ich trage den Wert solcher Räume wie Bucerius weiter – Orte, an denen das Ziel nicht Konsens, sondern Klarheit ist. Ich wollte mich mit Gleichgesinnten austauschen, die das System nicht nur kritisieren, sondern aktiv an Alternativen arbeiten – verankert in pluralen Wissenssystemen und den politischen Realitäten, in denen sie agieren. Diese Begegnungen haben mein Denken nachhaltig geprägt.

„Gespräche, die nicht davor zurückschreckten, überkommene Denkmuster zu hinterfragen.“

Joya Elias
Teilnehmerin der BSS 2024

Welche neuen Perspektiven hast du während der Summerschool gewonnen, besonders im Hinblick auf deine Arbeit im Bereich der Menschenrechte und Extremismusbekämpfung? 

Joya: Viele Inhalte der Summer School knüpften an Debatten an, die ich bereits aus meiner bisherigen Arbeit kannte. Was jedoch besonders hervortrat, war, wie viele Teilnehmende und Rednerinnen und Redner – insbesondere aus der Globalen Mehrheit – aktiv gängige, vereinfachte Narrative von Sicherheit, Regierungsführung und Führung hinterfragten. Ihre Kritik war nicht abstrakt, sondern tief in der Praxis verankert: in der Erfahrung, wie das internationale System ganze Regionen unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten behandelt, während es gleichzeitig die Ursachen der Krisen auslagert.

Aus meiner Erfahrung innerhalb institutioneller Rahmen der Extremismusbekämpfung weiß ich, wie staatlich und gebergetriebene Modelle häufig genau jene Bedingungen reproduzieren, die sie angeblich bekämpfen wollen. Die Summer School hat die Notwendigkeit betont, Sicherheitskonzepte durch dekoloniale, feministische und intersektionale Ansätze grundlegend neu zu denken – nicht als Ergänzung, sondern als strukturellen Ausgangspunkt. Jeder Governance-Ansatz, der dies nicht tut, bleibt nicht nur begrenzt – er wird mitverantwortlich für das Fortbestehen der Missstände.

Gab es ein bestimmtes Thema oder etwas anderes während der Summerschool, dass dich besonders inspiriert hat? 

Joya: Ein Moment, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ereignete sich am letzten Tag der Debatten, als ich eine Diskussion über sogenannte Opferhierarchien anstieß – ein Muster, das mir bei meiner Arbeit mit verschiedenen Überlebendengruppen weltweit immer wieder begegnet. Ich wollte die oft unausgesprochene Realität zur Sprache bringen, dass einige Gemeinschaften gehört, finanziert und ins Zentrum gestellt werden – während andere unsichtbar bleiben oder gar kriminalisiert werden. Dies geschieht meist nicht aufgrund der Art ihres Leidens, sondern aufgrund von Faktoren wie Hautfarbe, Geografie und geopolitischem Interesse.

Diese Diskussion wurde zu einer der ehrlichsten und notwendigsten des gesamten Programms. Wir begannen, die „polierte“ Sprache der Politik zu verlassen und stellten uns den schwierigen Fragen: Wessen Schmerz wird als legitim anerkannt? Wessen Leben gilt als politisch unbequem?

Diese Debatte spiegelte auch eine Beobachtung wider, die eine andere Teilnehmerin einbrachte: die Inkonsistenz, mit der globale Krisen bewertet werden. Der Krieg in der Ukraine wurde eindeutig als solcher benannt – doch beim Thema Naher Osten, insbesondere Palästina, wurde die Sprache zurückhaltender. Begriffe wie „Unfrieden“ ersetzten eine klare Benennung von Gewalt oder Besatzung. Diese Wortwahl offenbart strukturelle Asymmetrien in der globalen Governance – und zeigt, wie Stimmen der Globalen Mehrheit weiterhin marginalisiert werden. Diese Spannung zu benennen und Raum dafür zu schaffen, war für mich einer der bedeutungsvollsten Aspekte des Programms. Wo, wenn nicht bei Bucerius, sollte man solche Gespräche führen?

Was hast du vom „KSG-Leadership-Day“ in Berlin an neuen Erkenntnissen mitgenommen? 

Joya: Der KSG-Leadership-Day war eine der unerwartet tiefgründigsten und intellektuell großzügigsten Erfahrungen der Summer School. Die Sitzungen an der International Psychoanalytic University beleuchteten Aspekte, die in globalen Politikdiskursen selten vorkommen: die emotionalen und psychologischen Dimensionen von Führung.

Wir diskutierten die Anatomie moralischer Courage und die psychischen Belastungen, denen Führungskräfte in polarisierten, krisengeschüttelten Kontexten ausgesetzt sind. Für mich, die im Bereich Sicherheitsgovernance arbeitet, waren diese Gespräche besonders eindrücklich. Die Vorstellung, dass Führung emotionale Durchlässigkeit zulassen kann, ohne an Klarheit oder Entschlossenheit zu verlieren, war gleichzeitig radikal und notwendig.

Die Reflexionen von William Deresiewicz über Einsamkeit und Dissens im öffentlichen Leben haben mich besonders berührt. Sie gaben Worte für etwas, das viele von uns spüren, aber selten aussprechen: dass Prinzipientreue oft mit Isolation verbunden ist – und dass echte Führung oft im Stillen, jenseits der großen Bühnen, stattfindet.

Diese Gespräche erinnerten auch daran, dass Systeme nicht nur Ergebnisse beeinflussen, sondern auch das Denken und Fühlen der Menschen, die in ihnen arbeiten. Wir wurden eingeladen, neu zu überlegen, welche Art von Führung unsere Zeit tatsächlich braucht: nicht nur strategisch oder visionär, sondern psychologisch bewusst, beziehungsorientiert und fähig, mit Komplexität umzugehen, ohne reflexhaft auf Kontrolle zu setzen.

© Bild: David Aussenhofer / ZEIT STIFTUNG BUCERIUS

Wie hast du den interdisziplinären Austausch mit anderen Teilnehmern aus verschiedenen Ländern erlebt? 

Joya: Das Wertvollste an Bucerius war der Austausch abseits der offiziellen Sitzungen – vor allem mit jenen, die sich nicht mit den gängigen Erzählungen über Führung zufriedengaben. Besonders mit Teilnehmenden, die Verantwortung in fragilen oder hybriden politischen Systemen tragen, entstand ein gemeinsames Bedürfnis, Führung neu zu denken: weniger extraktiv, mehr kulturell verwurzelt.

Die wahren Gespräche fanden oft in den Zwischenräumen statt – bei Ausflügen oder Pausen. Es war stärkend zu erleben, dass viele von uns gegen überholte Strukturen arbeiten und gemeinsam neue Begriffe und Denkweisen entwickeln.

„Führung heute erfordert die Fähigkeit, diese überlieferten Denkweisen zu hinterfragen – nicht sie zu reproduzieren.“ 

Joya Elias
Teilnehmerin BSS 2024

Wo siehst du persönlich die größten Global Leadership Challenges der nahen Zukunft?  

Joya: Eine der dringendsten Herausforderungen ist das Versäumnis, Sicherheit neu zu definieren – in einer Weise, die sich an den tatsächlichen Lebensrealitäten der Menschen orientiert. Die internationale Gemeinschaft verknüpft Sicherheit nach wie vor mit Militarisierung, Überwachung und Kontrolle – anstatt strukturelle Ursachen von Unsicherheit zu beseitigen, investieren wir in Systeme, die sie verwalten.

Führung heute erfordert die Fähigkeit, diese überlieferten Denkweisen zu hinterfragen – nicht sie zu reproduzieren. Eine weitere Herausforderung ist der schleichende Verlust intellektueller und moralischer Courage in der Politik. Entscheidungen orientieren sich zunehmend an kurzfristigen Wirkungen statt an langfristigen Werten.

Und nicht zuletzt: Die epistemische Ungleichheit, die globale Governance prägt, muss überwunden werden. Wer definiert die Regeln? Wessen Führung wird anerkannt? Solange Akteure aus der Globalen Mehrheit nicht gleichberechtigt gestalten dürfen, betreiben wir keine gerechte Führungsentwicklung – wir etikettieren Hierarchie nur neu.

Die Förderung junger Führungspersönlichkeiten ist entscheidend für die Entwicklung nachhaltiger Strategien im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit. Es müssen nicht nur juristische, sondern auch sicherheitspolitische oder gesellschaftliche Zusammenhänge verstanden werden. Welche Rolle spielen deiner Meinung nach praxisnahe Erfahrungen? Kann das Bucerius Summerschool Programm hier hilfreich sein? 

Joya: Erfahrung ist entscheidend – aber nur, wenn wir aufhören, institutionelle über gelebte, lokale oder indigene Erfahrung zu stellen. Eine Person, die Friedensarbeit unter Besatzung oder unter autoritären Bedingungen leistet, bringt eine Art von Führung mit, die tiefgründig, komplex und dringend notwendig ist.

Das Bucerius-Programm bleibt nur dann relevant, wenn es nicht nur die Teilnehmenden diversifiziert, sondern auch, wie Wissen definiert und gewertet wird. Sein größtes Potenzial liegt darin, sicherheitspolitisches Denken herauszufordern und alternative, gerechtere Denkweisen zu fördern. Wenn es diesen Mut bewahrt, kann es wirklich transformative Führung fördern.

Wie findest du das Programm der Bucerius Summerschool als Ganzes, hast du etwas vermisst oder hättest du eine Anregung für Ergänzungen? 

Joya: Das Programm war inhaltlich und geistig großzügig. Ich würde mir wünschen, dass künftige Ausgaben sich noch stärker mit den moralischen und politischen Umbrüchen unserer Zeit auseinandersetzen. Statt top-down Analysen zu wiederholen, sollten Räume geschaffen werden, in denen politische Verweigerung, alternative Ökonomien und neue Formen des Zusammenlebens thematisiert werden.

Wir brauchen Gespräche über kollektive Trauer, Verlust und politische Vorstellungskraft: Wie sähe Außenpolitik aus, wenn sie von denjenigen formuliert würde, die bisher nur als Objekte von Politik behandelt wurden? Wie gestalten Gemeinschaften unter Besatzung Sicherheit? Was bedeutet Gerechtigkeit, wenn Institutionen versagen?

Solche Themen sind keine akademischen Spielereien – sie sind die Realität, in der viele von uns arbeiten. Bucerius kann der Ort sein, der diese Gespräche nicht nur führt, sondern mitgestaltet.

Du engagierst dich ehrenamtlich beim Maltesischen Roten Kreuz und hast Hobbies wie Schwimmen und abstrakte Kunst. Wie schaffst du es, bei einem so intensiven Beruf dennoch Zeit für deine Leidenschaften zu finden? Helfen Dir diese Hobbys, einen Ausgleich zu deiner beruflichen Tätigkeit zu finden? 

Joya: Freitauchen hat mir mehr über Führung beigebracht, als ich je erwartet hätte. Das Eintauchen in die Stille, das Anhalten des Atems und das Vertrauen in die eigenen Grenzen – das ist eine Metapher für jede Art von Krisenarbeit, die ich je gemacht habe.

Meine Hobbys sind für mich ein Anker. In einem Berufsfeld voller Dringlichkeit und Erwartungsdruck erinnern sie mich daran, innezuhalten, zu fühlen und aufmerksam zuzuhören. Daraus schöpfe ich meine eigentliche Widerstandskraft.

 

Wir sagen herzlichen Dank für das offene Gespräch, das Dr. Sofia Delgado für die KSG geführt hat.