„Wie könnten Ihrer Meinung nach die Prinzipien der Gegenseitigkeit mehr gestärkt werden, um Kants Maxime näher zu kommen und geteilte Werte besser zu leben und dem Weltethos gerechter zu werden?“
Leisinger: „Ich bin davon überzeugt, dass Menschen tief in ihrer Seele wissen, was menschenfreundliches, biophiles Handeln und Verhalten ist. Ich gehe sogar einen Schritt weiter und sage, dass die große Mehrzahl der Menschen eigentlich „gut“ sein will. Durch die Irrungen und Wirrungen der jeweiligen Sozialisation und durch schlechte Erfahrungen bzw. ungute Vorbilder kann dieses Wissen jedoch „verschüttet“ werden. Durch attraktive Bildungsprogramme – von der Grundschule bis zur Universität und darüber hinaus im life-long-learning des Geschäftslebens – können aber bei vielen Menschen Entwicklungsprozesse ausgelöst werden, die mehr Reflexion im Sinne der Goldenen Regel zulassen und zu aus ethischer Perspektive besserem Handeln und Verhalten führen.“
„Wie viel Zukunftsfähigkeit der Menschheit hängt Ihrer Meinung nach von einem gemeinsamen Wertekanon ab? Wie weit sind wir davon entfernt?“
Leisinger: „Wir leben in einer Zeit kumulativer Krisen, die trotz unterschiedlicher regionaler Ausprägung in ihrer Gesamtheit das Leben zukünftiger Generationen schwerer machen. Um irreparablen Schaden zu Lasten von zukünftig lebenden Menschen und der Natur zu verhindern und so vermeidbares Leid zu vermindern, hat die internationale Gemeinschaft im September 2015 eine neue Welt-Innenpolitik verabschiedet, die „Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung“. Sie stellt einen gemeinsamen Wertekanon dar, mit dem die gemeinsam beschlossenen 17 Ziele und 169 Unterziele durch angepasstes nationales Handeln konkret umgesetzt werden sollen. Komplexe Probleme wie der Klimawandel haben jedoch keine einfachen Lösungen – und Menschen habe Mühe, heute Investitionen zu machen oder Opfer auf sich zu nehmen, die erst späteren Generationen und an anderen Orten der Welt zugutekommen. Im Sommer 2024 stellte die UNO denn auch fest, dass kein Land der Erde bei der Zielerfüllung dort ist, wo es im Kontext der Agenda im Jahre 2030 eigentlich sein sollte. Der Krieg in der Ukraine und der drohende Rückfall in einen kalten Krieg erschweren die Zielerreichung weiter: Im laufenden Jahr werden weltweit über 2‘500 Milliarden US Dollar für militärische Zwecke ausgegeben – Geld, dass beim Schutz der globalen Umwelt, im Kampf gegen Armut, Hunger und Krankheit fehlt. Wir sind weit von zukunftsfähigem Handeln entfernt – zukünftige Generationen werden in dieser Beziehung kein gutes Urteil über uns heute lebenden Menschen fällen. Keiner kann für sich alleine „Großes“ bewirken, allerdings gilt für jeden von uns die Konfuzianische Weisheit: Es ist besser, ein kleines Licht zu entzünden, als über die Dunkelheit zu klagen.“
„Dennoch gibt es auch zukunftsfähige Unternehmen. Sie engagieren sich zum Wohle der Gesellschaft und sind Vorbild. Können wir Hoffnung haben, dass in die Zukunft es viel mehr davon gibt?“
Leisinger: „Ja, bei verschiedenen Aspekten der Zukunftsfähigkeit gibt es Unternehmen, deren Führungspersonal und Belegschaft Vorbildliches leisten. Ich kenne allerdings kein Unternehmen, dass bei allen Aspekten der Nachhaltigkeit Vorbildcharakter hat. Das hat auch damit zu tun, dass es auf Unternehmens- und Gesellschaftsebene zwischen ökologischen und sozialen Zielen Konflikte geben kann. Das „Engagement zum Wohle der Gesellschaft“ und die „Vorbild-Funktion“ besteht für Unternehmen hauptsächlich darin, im Kontext ihres Geschäftsmodells Gutes auch für das Gemeinwohl zu bewirken, z.B.
- Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, zu produzieren und auf Märkten anzubieten, die den Bedürfnissen der Kunden entsprechen und das Leben der Menschen angenehmer machen;
- Ressourcen zu investieren, um bessere, effektivere oder effizientere Lösungen für ungelöste Probleme zu finden;
- In diesem Zusammenhang produktive und fair bezahlte Arbeitsplätze in einer menschenfreundlichen Unternehmenskultur zu schaffen;
- Die Qualifikation von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen laufend zu verbessern und dadurch auch deren Employability zu erhöhen
- Am jeweiligen Produktionsort faire Steuern zu bezahlen und Beiträge an Pensionskassen und Versicherungen zu bezahlen; und, last but not least
- Eine Rendite sicher zu stellen, die den Eigentümern eine angemessene Vergütung für das zur Verfügung gestellte Kapital und die eingegangenen Risiken bietet sowie ausreichende Mittel für zukünftige Investitionen bereithält.
Breit angelegtes Wirtschaftswachstum verbessert individuelle Lebensperspektiven, erweitert die Handlungs- und Entfaltungsspielräume der Menschen und führt dadurch zu höherer Zufriedenheit und besserer seelischer Gesundheit. Wenn ein Unternehmen sich darüber hinaus noch karitativ oder humanitär engagiert, ist das wunderbar – ersetzt aber nicht den Beitrag an das Gemeinwohl, der durch eine integre Geschäftspolitik zustande kommt.“
Wir sagen herzlich Danke für das Interview!